50.000 mal ein ausgelöschtes Leben
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- 27. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Ein Tag im KZ Buchenwald. Am 100. Jahrestag der Wahl Hindenburgs. Dem Anfang der Geschichte eines Hassregimes, dass dieses und viele andere Lager ersann, baute und industriell betrieb. Am Tag, an dem in Weimar Nazis wieder marschierten. Vor dem Nationaltheater. Keine sechs Kilometer entfernt. Vom Zehntausendfachen Tod, der in Summe unbegreiflich, im Einzelnen jedoch schrecklich klar zu verstehen bleibt. Und davon, dass die Erben der Täter nichts gelernt haben. Und unser Land sich anschickt, Weimar und dessen Geschichte zu wiederholen.
Von Dirk Neubauer

„Jedem das Seine“. Der zynische Claim, der am Tor prangt, begleitet mich seit Kindheitstagen. Nach langer Zeit habe ich mich wieder her gewagt. Auf diesen bösen Berg. Wieder einmal stehe ich ratlos vor dem schweren Tor. Dieser schmiedeeisernen Grenze zwischen Leben und Tod. An diesem blaustrahlenden Tag ist es surreal still hier. Das Tor steht
offen, als wäre es sich seiner nicht mehr bewusst. Wer es nicht weiß würde nicht erahnen, wieviele Sehnsüchte und Hoffnungen jenseits dieses Tores starben. An ihm zerschellten. Damals. Als es geschlossen und bewacht die Grenze war. Als es Menschen unterschied. In gutes und unwertes Leben. In Freiheit oder dem Tode geweiht.
Heute, an diesem Tag, ist es sowieso schwer, dies zu erinnern. Die Sonne steht hoch. Ein kalter Wind trägt das Rauschen der Bäume heran. Vögel zwitschern. Idylle im April. Ein trügerisches Bild. Zynisch scheint sich das Jetzt beeilen zu wollen, die furchtbare Stille der Schuld und des Leids zu übertönen, die schon sehr lange Zeit als Geschwister des Todes hier wohnen. Auf diesem Berg. Der, von beiden noch immer bestimmt, auch ausstrahlt auf die Stadt. Sie, die in seinem Schatten einst den größten Dichterfürsten ebenso Heimstadt war, wie auch dem Führer, der im ehrwürdigen Hotel Elefant logierte und sich von der begeisterten Bürgerschaft auf den Balkon rufen ließ. „Lieber Führer komm heraus, aus dem Elefantenhaus“, skandierten die Weimaraner zu Hunderten. Als die Zeit des Führers von millionenfachem Tod beendet und vom Schutt des Landes begraben war, wusste dies niemand mehr. Nichts von der Begeisterung. Nichts von dem Lager, das über 50.000 Mal ein Leben beendete. Gar nichts. Nur, dass man nichts wusste. Nichts sah. Nichts ahnte. Und selbst jetzt, da man es weiß, hat sich daran nichts geändert.

Ich durchschreite dieses Tor betrete den Appellplatz. Links der Zellentrakt, in dem Sadisten Menschen zu Tode folterten. Einach so. Menschen töteten Menschen. Weil Sie es wollten. Aus Freude an der Qual des Anderen. An einem der eisernen Lichtschächte, die diese Zellen belüfteten, ohne Licht zu geben, hängt eine trockene Rose. Auch dies war ein Mensch. Einer, der sich entschied, ein solcher zu sein.
Vor mir liegt nun die riesige Fläche des Lagers. Die Baracken sind schwarzen, schlackebelegten Umrissen gewichen, die die Fundamente von einst markieren. Es ist schwer, das Grauen zu sehen, wenn es sich so geschickt versteckt hinter banaler Geometrie. Es ist schwer das Grauen zu begreifen, wenn es sich zudem in großen, abstrakten Zahlen codiert einem präsentiert, als wäre es eine Statistik von irgendwas. 56.000 Tote. Vielleicht waren es auch mehr.
"Wer kann dies erfassen?", denke ich.
Eine mittlere Kleinstadt. Ausgelöscht.
Wer kann das wirklich begreifen? Sich Leid wirklich vor Augen führen, angesichts der Dimensionen in fünf Ziffern?

Es ist das Abstrakte, das den Schrecken nimmt, ja ihn gar nicht begreifbar werden lässt. Ich gehe die Runde um dieses weite, karge Feld. Vorbei an den Steinstehlen, die an die Sinti und Roma erinnern, die hier und in all den anderen Lagern starben. Weil sie anders waren. Weil sie niemand wollte. Sie ließen sich nichts zu Schulden kommen. Und mussten doch sterben. Steine sind auf die Stehlen gestapelt. Ein Zeichen der Erinnerung an die Toten. Die Namenlosen. Die laufenden Nummern im Vernichtungsapparat. Drei Tonnen Papier beschlagnahmten die Befreier damals. Drei Tonnen Dokumentation der Entmenschlichung. Akkurat geheftet und sortiert. Mein Blick geht zurück auf die Stehlen.

„Heute schieben wir sie ab, wenn sie zu uns flüchten“, denke ich. Zurück ins Nichtgewolltsein. Weil sie anders sind. Auch jetzt sind sie nur Zahlen im Apparat.
"Was haben wir gelernt?", denke ich.
Was?
Am Eingang zum kleinen Lager, jenem Ort an dem unter anderem die Lagerkinder in Pferdeställen zusammengepfercht waren. 2000 dort, wo eigentlich nur 200 Platz gehabt hätten und Kinder ohnehin nicht hätten sein sollen. Inmitten dieses unfassbaren Todestrakts. Umgeben von Kranken, von Sterbenden, die draußen im Schlamm krepierten. 5000 allein in drei Monaten Anfang 45.
Gedanklich verstrickt Inmitten dieser unfasslichen, gesichtslosen Zahlen, entdecke ich einen Zettel. Niedergelegt an einem Stein, der eine Blocknummer markierte.
"Wer nur einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt“, steht da geschrieben.
Und plötzlich wird alles klar.
Plötzlich wird alles fassbar.
Nur einen Moment hat es gebraucht. Es waren nicht 50.000 Tote. Es waren
50.000 mal ein Mensch. 50.000 mal ein Kind, das lachte, weinte, seine Mutter liebte. Und geliebt wurde. Das, wenn es Glück hatte, Lesen und Schreiben und einen Beruf erlernte. Das dabei Faxen machte und vom Lehrer an den Ohren aus dem Klassenzimmer gezogen wurde. Ein Mensch, der lieben lernte und nicht schlafen konnte, im ersten Liebesglück. Nach seinem ersten, verstohlenen Kuss im Heu.
Vielleicht war dieser Mensch ein Bäcker oder Zimmermann, wie sein Bewacher auf der anderen Seite des Stromzauns? Vielleicht hatte er eine Familie begründet und selbst schon Kinder? Bevor ihn die Nazis in einem Viehwaggon aus seiner Heimat in diese Hölle verbrachten.
Weil er ein Jude war.
Weil er ein Kommunist war.
Weil er einfach nur ein Mensch geblieben war.
Weil er dem Herrenrassenvolk nicht genügte.
Ein Untermensch war.
Nun war er nur noch Angst. Von der Rampe über den Carachoweg getrieben in diese Baracke gesperrt. Bei halber Ration dessen, was das restliche Lager erhielt. Die Hälfte von Nichts. Geschoren. Entmenschlicht im Sträflingsanzug. Irgendwann heruntergehungert auf 25 Kilogramm. Mit Mitte 30. Voller Sorge um die, die einst Familie waren und auch irgendwo wahrscheinlich selbiges erlebten. Was war mit seinen Kindern? Wie ging es der
geliebten Frau? Waren Sie alle tot? Vielleicht doch noch am Leben? In Sicherheit oder in einer solchen Hölle?
Ausweglosigkeit ist mächtig. Sie verdrängt Hoffnung. Kein Funken Zuversicht kann retten, was so gefangen liegt. Ein tägliches Sterben. Um ihn herum. In ihm. Bei lebendigem Leib. Bis auch der Leib nicht mehr will. Jetzt kann man es fühlen. Diesen Abgrund ohne Boden. Aus dem man sich nur heraussterben konnte.

Und auf der anderen Seite des Zaunes? Menschen, die Dienst taten. Nach Schichtplan prügelten. Die Abends zu ihren Familien nachhause gingen, die in den angrenzenden Siedlungen oder den Mannschaftsunterkünften lebten. Die im nahen Weimar ihre Freizeit verbrachten. In jener Stadt, deren Bevölkerung später sagen wird, dass sie von all dem Grauen auf dem Ettersberg nichts wusste.
Ärzte, die Häftlinge totspritzen, und dann nachhause fuhren, um ihre Kinder ins Bett zu bringen. Auch dies waren Menschen. Aber sie durften leben. Weil sie auf der anderen Seite des Zaunes standen. Im vermeintlich richtigen Volk geboren waren. Weil sie Täter waren. Ebenfalls entmenscht, aber selbst entschieden. Vermeintlich zum Siegen geboren.
Was haben wir gelernt? Das Übervolk von einst? Haben wir überhaupt etwas gelernt? Nein. Schuld an dem, was damals geschah, sind wir nicht. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass sich dies nicht wiederholt. Nicht so. Und auch nicht anders. Dass großdeutsche Phantasien nicht wieder obsiegen können.
Und was tun wir? Wir wollen Menschen verjagen, die „nicht hierher" gehören. Wir sprechen von Lagern, ihn denen man die Verfahren absitzen soll. Sinti und Roma gelten hier noch immer für nicht wenige als Pack. Wir fühlen sie noch immer, diese vermeintliche Überlegenheit von einst.
Sie war nie weg.
Judenwitze. Gaskammerwitze. Führerkult. Hass auf vermeintlich Minderwertige. Nicht weit weg vom "unwertem Leben", oder?
Alles ist da. Getragen auch von einer Partei, die die Parlamente nahezu erstürmt. Getragen von Millionen Menschen. Den Erben der Täter von einst. Was haben wir gelernt? Als ich das Tor wieder erreiche, vorbei an der stählernen Gedenkplatte für eben jene 50.000 einzelne Leben, die stetig auf 37 Grad gehalten wird. Auf Körpertemperatur also. Vorbei an eben jenem geschmiedeten Tor-Zynismus. Da will ich nur noch raus.
Der letzte Schritt über eine Linie.
Das war, was über Leben und
Tod entschied.
Nur ein Schritt.
Eine ganze Welt.
Für 50.000.
PS: An diesem Tag marschierten zeitgleich in Weimar rechte Truppen vor dem Nationaltheater auf. Das Haus der Weimarer Republik und andere Einrichtungen blieben geschlossen. Es war der 100. Jahrestag der Wahl Hindenburgs zum Reichskanzler.
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